HUMANGENETISCHE BERATUNG

Die Genetik – das sich am dynamischsten entwickelnde Gebiet der Biologie – beeinflusst heutzutage alle Bereiche der Medizin. Sie änderte unser Verhältnis zur Entstehung von Krankheiten, ihre Behandlung und Prävention.

Die meisten Menschen assoziieren die Genetik mit angeborenen Anomalien, etlichen Syndromen geistiger Behinderung sowie mit Krebskrankheiten. Die Genetiker wissen jedoch bereits, dass jede bekannte Krankheit direkt bzw. indirekt genetisch (mit)bedingt ist. Diabetes, Arteriosklerose, Thrombose, Embolie, Herzinfarkt, Arrhythmie oder psychiatrische Syndrome – all diese Krankheiten haben eine genetische Basis. 

Die Genetik ist ein neues Behandlungsgebiet, das multidisziplinär und äußerst schwierig ist – vielleicht aus diesem Grund sind in Polen nur ungefähr 100 klinische Genetiker tätig. 

Heutzutage kennen wir über 23000 genetische Krankheiten und Syndrome – neue erscheinen jeden Tag in der OMIM-Datenbank. In den meisten Fällen ist ihre molekulare Basis bekannt, es gibt aber immer noch eine signifikante Anzahl genetischer Mutationen, die nicht lokalisiert bleiben. Tausende Molekularbiologen und Laboranten aus den Instituten auf der ganzen Welt suchen nach Genen, die für konkrete Krankheiten verantwortlich sind. 

Die menschliche DNA hat eine Länge von etwa 2 Meter und enthält Millionen von Genen. Wo befinden sich die Gene, die für die Funktionen der Organe verantwortlich sind, von denen am komplexesten das menschliche Gehirn ist? Die bloße Fähigkeit, das menschliche Genom zu entziffern, garantiert keinesfalls die Antwort auf alle derartigen Fragen. 

Diese 2 Meter DNA werden in jeder Zelle auf angemessene Weise gefaltet und in Chromosomen verpackt. In jedem Chromosom gibt es sogenannte aktive Stellen (Euchromatin) und angeblich inaktive Stellen (Heterochromatin) – „angeblich“, denn ihre biologische Funktion wurde noch nicht eindeutig nachgewiesen, aber sie ist auf jeden Fall vorhanden. Bei einigen Krankheiten beeinflusst die Länge ihrer spezifischen Sequenzen bzw. die Anzahl ihrer Wiederholungen in unmittelbarer Nähe des Gens die Funktion des Gens, obwohl es korrekt aufgebaut ist. Zu solchen schweren Krankheiten gehört Chorea Huntington, eine tödliche Krankheit, die erst im Erwachsenenalter auftritt. Ein sehr ähnlicher Mechanismus tritt bei der erblichen kognitiven Behinderung auf, dem sogenannten Fragiles-X-Syndrom, das hauptsächlich bei Jungen vorkommt, aber von der Mutter übertragen wird – es gibt viele Beispiele dieser Art. 

Die ältesten Beweise für die Verknüpfung von Krankheiten mit genetischen Störungen kamen also von dem, was unter dem Mikroskop gesehen werden konnte: von ganzen Chromosomen. Bekannt sind die Krankheiten wie Down-, Edwards-, Pätau- als auch Turner- und Klinefelter-Syndrom, bei denen einzelne Chromosomen zusätzlich zum üblichen Chromosomensatz vorhanden sind oder fehlen. In der Natur gilt das Prinzip Quantität = Qualität: Sowohl das Fehlen des Chromosoms als auch überzählige Chromosomen rufen Störungen in gleichem Maße hervor. Bei der am häufigsten vorkommenden Trisomie – dem Down-Syndrom – gibt es ein überzähliges ganzes Chromosom des 21. Paares, das das Funktionieren der beiden anderen Chromosomen stört und zu allgemein bekannten Symptomen führt. Dies ist eine der leichtesten Trisomien. Doch andere, wie z.B. Trisomien des Chromosoms 1, 9 oder 16, sind so schwer, dass sie bereits im ersten Trimester der Schwangerschaft zur spontanen Fehlgeburt führen; noch andere wiederum, wie z.B. Trisomien des Chromosoms 13 und 18, sind vor oder kurz nach der Entbindung letal (tödlich). (Abb. 1) 

Abb. 1. Überzähliges Chromosom beim Pätau-Syndrom (Trisomie 13), einer schweren, tödlichen Krankheit

Abb. 2. Überzähliges Chromosom beim Edwards-Syndrom (Trisomie 18)

Nicht nur das ganze überzählige Chromosom, sondern auch sein kleiner Ausschnitt löst alle Symptome des Down-Syndroms aus. Es gibt auch Translokations-Trisomien des 21. Chromosoms, die mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit vererbt werden können. Glücklicherweise gibt es nur wenige Fälle dieser Art. Das oben genannte einfache Beispiel ermöglicht es uns zu erkennen, dass es bei einer so bekannten Krankheit verschiedene Varianten geben kann – diese sind meistens nicht erblich, aber werden von den Eltern übertragen. 

In jeder Zelle findet eine Reihe von Teilungen statt und in jeder dieser Teilungen kann die Natur „Fehler begehen“. In der Zelle aber wirken Reparaturmechanismen, die aus verschiedenen Gründen fehlschlagen können. Falls ein solcher Fehler in einer Ei- oder Samenzelle auftritt, ist die befruchtete Eizelle und dann der Fötus von der Krankheit betroffen. Die Mutationen, die nicht repariert werden, treten auch im embryonalen, fötalen und erwachsenen Leben auf. Ein spezifischer „Hüter des Genoms“ ist das p53-Protein, dessen Gen auf den Chromosomen des 17. Paares liegt. Die Mutationen dieses Gens sind bei etwa der Hälfte aller Krebsarten anzutreffen, die auch auf gestörte Mechanismen der DNA-Reparatur zurückzuführen sind.

Nicht nur eine anormale Anzahl von Chromosomen verursacht Krankheiten. Verluste oder Überschüsse von chromosomalen Mikroausschnitten (Mikrodeletionen oder Duplikationen) sind genauso gefährlich. Diese Störungen kommen sehr häufig vor und rufen äußerst schwere Krankheiten hervor (vermutlich würden viele Eltern lieber ein Kind mit Down-Syndrom erziehen als ein Kind mit einer der Mikrodeletionen). Die Schwere dieser Syndrome resultiert aus dem vollständigen Funktionsverlust sehr zahlreicher fehlender Gene, deren Lokalisierung bestimmte Symptome verursacht. (Abb. 2).

 

Abb.2. Mikrodeletion im Chromosom 15, daneben die wichtigsten Genen, die infolge dieser Störung in der Genkopie fehlen. Dies ist der Grund für ihren vollständigen oder partiellen Funktionsverlust sowie für gravierende Defekte des Organismus

Die nächste Gruppe von Störungen bilden die sogenannten monogenen Krankheiten. Jedes Gen besteht aus Hunderten oder Tausenden von Basenpaaren. Paradoxerweise reicht es aus, dass nur eine Base durch eine andere (falsche) ersetzt wird: Dann funktioniert das Gen nicht richtig und produziert das falsche Protein. Die Folgen eines solchen Fehlers können katastrophal sein – sie verursachen eine der schwersten Gruppen von Krankheiten. Als Beispiel sind Mukoviszidose (zystische Fibrose) oder metabolische Erkrankungen anzuführen. Nicht nur eine fehlende Base, sondern auch andere Faktoren können die normale Funktion von Genen stören, dazu gehören das anormale Methylierungsmuster (CH3) in einem bestimmten Gen, die anomale Aktivität eines Gens (von mütterlicher oder väterlicher Herkunft) im Paar und viele andere Anomalien. 

Ein anderes Thema ist die Frage der Vererbung von Krankheiten – die „genetische Krankheit“ entspricht nicht immer der „erblichen Krankheit“. Selbst sehr schwere Störungen können „zufälligerweise“ auftreten und müssen nicht erblich sein, wie dies bei Trisomien mit einem überzähligen Chromosom im bestimmten Paar der Fall ist (sog. reguläre Trisomien 13, 18 und 21). Einige Krankheiten können autosomal-dominant (AD) vererbt werden: Wenn die Symptome der Krankheit bei einem Elternteil vorkommen, treten sie im Falle dieses Erbgangs IMMER auch bei Kindern auf. Viele Krankheiten aber werden autosomal-rezessiv (AR) vererbt, was bedeutet, dass ein Kind zwei defekte Gene (von beiden Eltern) erben muss, damit die Symptome der Krankheit vorkommen können. Dies sind sehr heimtückische und gewöhnlich gravierende Störungen (z.B. im Falle der Mukoviszidose), wobei die Eltern nur Träger des defekten Gens sind. 

Andere Typen des Erbgangs sind beispielsweise mit dem X-Chromosom verbunden, asymptomatischer Träger ist dann die Mutter und männliche Kinder sind am häufigsten von der Krankheit betroffen. Außerdem kennen wir viele andere Erbgangsschemen, diese gehen aber über den Rahmen dieser bündigen Zusammenfassung hinaus. 

Der klinische Genetiker, der auf genealogischen, klinischen, zytogenetischen und molekularen Daten basiert, bestimmt die Wahrscheinlichkeit des Auftretens der Krankheit (das Erkrankungsrisiko) von Nachkommen oder anderen Familienmitgliedern. Diese Prognose ist oft nicht so einfach, wie es scheinen mag und reicht vom einfachsten 50%/50%-Modell bei AD-Krankheiten über das ebenso häufige 25%/75%-Modell bei AR-Erkrankungen bis hin zu sehr komplexen Schemen bei ausgewogenen Translokationen, polygenen Erkrankungen und Untersuchungen zur Populationsgenetik. 

Ein ähnlicher Begriff der „Wahrscheinlichkeit“ wird auch in der pränatalen Diagnostik verwendet, bei der beispielsweise das Risiko des Auftretens der häufigsten Trisomien bestimmt wird. In diesen Fällen werden jedoch viele unterschiedliche Faktoren berücksichtigt: genealogische Daten, Alter der Mutter, Gewicht des Körpers, Zahl der Wochen der Schwangerschaft, Proteinwerte im Blut, zahlreiche sog. Ultraschallmarker. Bei diesen Untersuchungen sind jedoch komplexe Computerprogramme unerlässlich, die Dutzende scheinbar nicht zusammenhängender Daten miteinander verknüpfen. Die pränatale Genetik ist aber ein viel schwierigeres und komplizierteres Gebiet. Bei der Untersuchung von Kindern bzw. Erwachsenen verfügen wir gewöhnlich über eine andere, quasi-unbegrenzte Zeitskala. In der Schwangerschaftsmedizin spielt die Zeit eine Schlüsselrolle – wir müssen das Ergebnis viel schneller erzielen, von Bedeutung sind Wochen, oft Tage! Das zu testende Material ist auch äußerst problematisch – beispielsweise ist es bei einer typischen Amniozentese sehr spärlich. Einzelne, untersuchte Zellen des Fötus stammen gewöhnlich aus dem abgeschuppten Epithel des Fötus bzw. dem fötalen Urin – sie sind nicht zahlreich und wachsen sehr schlecht. Die Versuche, die geeignete DNA-Menge aus solch knappem Material zu erzeugen, gelingen nur wenigen und erfordern besondere Fähigkeiten. In der pränatalen Medizin sind wir auch häufiger außerstande, eine Diagnose zu stellen, insbesondere bei seltenen metabolischen Erkrankungen, bei denen die Symptome (z.B. Knochendefekte) sehr spät auftreten, erst bei Neugeborenen- oder in der Kindheitsperiode. Es ist zu beachten: Die Genetik bietet eine Antwort (in Form JA oder NEIN) auf die Frage, die sich nur auf eine bestimmte Krankheit bezieht. Die Bestimmung dieser Krankheit (insbesondere einer seltenen), verlangt aber besondere Kenntnisse und Fähigkeiten, deswegen arbeiten Geburtshelfer und Genetiker in renommierten pränatalen Laboratorien ständig zusammen. Dies ist der einzige Weg, um vorgeburtliche Erfolge zu erzielen, was sich unmittelbar in einer schnellen und genauen Diagnose niederschlägt, die die Mutter beruhigt und die Möglichkeit bietet, dem Kind zu helfen.

MD PhD Krzysztof Piotrowski

Spezialist für klinische Genetik

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